Ich fühle mich oft verpflichtet, die Publikationen von Schriftsteller*innen zu lesen, mit denen ich mehr oder weniger gut bekannt bin. Dabei kommt es nicht selten vor, dass es mich schon nach wenigen Seiten so sehr fröstelt, dass ich nicht zu ende lesen kann. Ich habe dann das Gefühl: diesem Text fehlt die Seele.
Einige Etymologen nehmen an, dass das Wort „Seele“ über seinen Ursprung im Altgermanischen etwas mit dem See zu tun hat, in dem die Seelen wohnen. Wenn ich in der Uckermark durch einen Buchenwald laufe, schauen mich die kleinen, sumpfigen Waldseen wie dunkle Augen sehr beseelt an.
Es ist schwer zu sagen, was die Seele eines Textes ist. Für mich bedeutet es, dass der Text atmosphärisch ist und vielerlei Bilder, gerne auch solche aus der Kindheit, in mir wach ruft. Auch dass bei aller Melancholie oder Langsamkeit der Beschreibung eine untergründige Lebendigkeit da ist. Ich möchte auch bei womöglich gruseligen Vorgängen noch eine Prise Warmherzigkeit in dem Text spüren. Überhaupt eine vom Herzen ausgehende Energie, die den Verstand leitet und nicht umgekehrt.
Ein Text kann die lebendige Seele des ersten Entwurfs schnell verlieren, wenn er überredigiert wurde, also zu oft gelesen und berichtigt, aber zu wenig gefühlt wurde.
Weil Gefühle so sehr wichtig sind, um unsere Leser*innen in Bann zu schlagen, solltest Du ein Thema wählen, das Dich wirklich tief berührt oder betrifft, denn darin kennst du Dich emotional am besten aus und wirst damit auch Deine Leser*innen am ehesten erreichen. Du solltest Dich auch nicht davor scheuen, persönliche und auch peinliche Geschichten zu erzählen, denn Dich schützt immer noch die Fiktion.
Versuche, in Deiner Sprache erst einmal nicht zu sehr gedrechselt daherzukommen, bloß weil du Thomas Mann und Jane Austen liebst, und ihnen nacheifern willst. Benutze zunächst ganz einfache, ehrliche Worte. Wenn Du Deine Texte überarbeitest, versuche, dies intuitiv zu tun, damit nicht Dein Kopf sich vor Dein Herz schiebt. Versuche, Deine eigene Stimme zu finden. Mach Dir keine Sorgen über einen eigenen Stil. Wenn Du auf Dein Herz hörst, dann wird ein solcher sich von allein entwickeln. Achte darauf, ob Du Dich mit allen Deinen Protagonisten und Antagonisten identifizieren kannst. Sollte dies noch nicht der Fall sein, dann male sie Dir noch besser aus, beschäftige Dich mit ihnen, bis sie Deine engsten Freunde werden. Versuche außerdem, sobald als möglich das Thema Deines Textes zu bestimmen und dann nimm dies als deinen Leitstern, von dessen Führung Du mit Deinem Boot von nun an nicht mehr abweichen wirst. (Foto: Jana Puls)
Hier ist nun, wenn Du möchtest, Deine Aufgabe: Nimm Dir einen Text vor, in dem Du bisher nicht weitergekommen bist und bestimme sein Thema. Wirf alle Passagen des Textes hinaus, die nichts mit dem Thema zu tun haben. Dann schreib weiter an Deinem Text und spüre dabei die Verbindung mit Deinem Inneren und Deinem Herzen. Versuche, ihn durch Überarbeiten zu Ende zu führen, aber über-überarbeite ihn nicht. Wenn Du überzeugt genug bist, von dem, was Du geschrieben hast, gib ihn einer Freund*in zum Lesen und lass Dir erzählen, was sie beim Lesen gefühlt hat!