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LITERATURBLOG

Die Künstlerin, die in Dir schlummert (8)

Als Kind bin ich nicht gerne nach draußen gegangen. Wir lebten auf einem jüdischen Friedhof und es gab viel Gebüsch, Gestrüpp und verwunschene Plätze. Zum Beispiel konnte eine steinerne Urne als Speiseeisausschank dienen und ein eingezäuntes Feld mit großem, schwarzem Grabstein als Wohnung. Das scheint ein wenig blasphemisch, aber so haben unsere Kinderaugen diesen Ort gesehen. Das Blumenbeet vor einem würdevollen Grabstein mit Marmorinlay war unsere Badewanne und eine Aussparung in der Friedhofsmauer diente als Theke eines besonders reichhaltig ausgestatteten Tante-Emma-Ladens. Meine Schwester war im Gegensatz zu mir immer sehr gerne draußen, brachte Freundinnen und Freunde mit. Ich hatte einen Hang dazu, mich drinnen zu verschanzen, da mir die Umgebung draußen zu unruhig war: schwankende Vogelbeerbäume und Akazien, das rauschende Blätterdach der großen, alten Eiche. Die Unruhe auf unserem, auf einem Berg gelegenen Gelände, war groß: Spechte, Elstern und Nachtigallen wohnten da. Und es gab den Marder, der uns mit seinen Schritten auf dem Dachboden einen Schrecken einjagte, wenn unsere Eltern ausgegangen waren zu einem geselligen Abend in der Tanzgaststätte „Universum“.

Dieses Draußen also, mit seinen Bewegungen, Sturzflügen und raschelnden Igelschritten war mir zu vielfältig. Ich hätte also schon als Kind ein Paar Schallschutzkopfhörer gut gebrauchen können.

Was andererseits dagegen sehr gut war: In meiner Kindheit gab es nur ganz selten Fernsehen. Dafür hatte ich Regale voller Kinderbücher und meine Eltern hatten einen großen Schrank mit Belletristik, den ich im frühpubertären Alter durchstöberte, auf der Suche nach skandalösen Erwachsenengeheimnissen und nach dem Pulsieren einer fremden Seele. Ich war bereit, mich auch durch sehr langweilige Passagen zu kämpfen, denn das erschien mir höchst erwachsen, wenn ich selbst das Langweilige aushielt. Ich konnte den ganzen Tag in meinem Bett liegen und lesen. Außerdem schrieb und malte ich Dinge in kleine Hefte, befand sie aber für nicht gut genug, um sie weiter zu verfolgen. Die Schule brachte uns einen sehr passiven Umgang mit der Welt bei: lesen, zuhören, Alles aufsaugen, mitschreiben, lernen, das Gelernte wiedergeben. Sie brachte uns nicht bei, Künstler zu sein. Selbstverständlich nicht. Künstler sind eine staatsgefährdende Kaste gewesen, man musste ihre Mitglieder teilweise abstrafen, wenn sie zu einfallsreich waren, und in die Produktion schicken, das heißt sie in Schichten in einem Braunkohletagebau arbeiten lassen, damit sie das arbeitende Volk anbeteten und in ihren Erzählungen und Malereien idealisierten.

Ich hatte erst mit Neunzehn mein Coming Out als Künstlerin. Doch dazu später mehr.

Wenn Du magst, kommt hier wieder eine schöne Wochenaufgabe für Dich: Setz Dich wieder in ein Café oder an einen anderen, lebendigen, öffentlichen Ort. Schreibe auf, was Du beobachtest. Schau Dir die Personen an zwei Tischen Deiner Wahl genauer an. Warum sitzen sie da, was besprechen sie? Jetzt lasse eine Person des einen Tisches zu dem anderen Tisch gehen. Was für ein Anliegen könnte sie haben? Wie könntest Du das Leben der Menschen an dem einen Tisch mit dem der Menschen an dem anderen Tisch verbinden? Skizziere diese Begegnungen mit möglichst viel Dialogen! Streue auch Details der fünf Sinne ein: wonach duftet es in diesem Café, welche Farben haben die Wände und Sofas? Wie fühlt sich für die eine Person die Hand der anderen an, wenn sie einander die Hände schütteln? Skizziere Alles und überlege, ob Du daraus eine Geschichte machen möchtest!