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LITERATURBLOG

Schreiben kann zaubern. (6)

Ich schreibe gerne Liebesgeschichten und suche mir dafür mitunter Personen aus meiner näheren und ferneren Umgebung aus, die dann zu Charakteren in meinen Geschichten werden. Also Achtung, es ist ein bisschen riskant, mit einer Schriftstellerin befreundet oder auch nur bekannt zu sein, denn die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass man in eine Geschichte Eingang findet. Für den Roman, den ich gerade fertig stelle, fiel mein Auge vor knapp zehn Jahren, als ich den Stoff zum ersten Mal in die Hand nahm, auf meine Gartennachbarin Marlene (alle Namen geändert). Sie war eine forsche Frau mittleren Alters mit einem goldenen Herzen. Sie lebte den ganzen Sommer über allein in ihrem Garten und wurde so die ideale Gartenzaungesprächspartnerin, da sie immer für ein Schwätzchen Zeit hatte und über die Geschicke der anderen Gartennachbar*innen bestens Bescheid wusste.

Als ich vor zehn Jahren im Frühjahr meine kleine Tochter austrug und wir fast gleichzeitig unseren neuen Garten bezogen, lag ich viel und gerne auf dem bunt geblümten Bett in der Laube, das fast das ganze Schlafzimmerchen ausfüllte und stillte mein kleines, niedliches und sehr aufgewecktes Baby. Ich hatte Glück, mein Töchterchen war ein ruhiges Kind, so hatte ich viel Zeit, zum ungefähr zwanzigsten Male „Pride and Prejudice“ von Jane Austen zu lesen, Walisisch zu lernen und gemeinsam mit meinem dreijährigen Sohn, der damals ein wahrer Basquiat war, zu zeichnen. Bob, der Vater meiner Kinder, werkelte zwischen seinen Jobs im Garten, zauberte aus einem öden Stück Rasen mit Thujahecke ein Paradies aus Tulpen, Kapuzinerkresse und Vergissmeinnicht. Für unseren kleinen Jungen pflanzten wir einen Klarapfelbaum und für unser Mädchen eine Kirsche.

Ganz wie aus Versehen und ohne groß darüber nachzudenken, gestaltete Bob unseren Garten nach dem Vorbild des Gartens, in dem er aufgewachsen war. Dieser war ein Reihenhausgarten in einem walisischen Bergarbeiterdorf mit schiefergedeckter Felsensteinmauer und einem schönen Ausblick auf die Berge. Bob teilte das Blumenbeet vor unserer Terrasse in der Mitte durch einen Weg aus alten Ziegeln, so wie der Reihenhausgarten in Wales in der Mitte geteilt gewesen war. Den Querweg südseitig der Terrasse nannten wir von nun an folgerichtig „Gully“, den Weg westseitig die „Coop-Street“ und den Hauptweg die „Katiestreet“, denn Bob sollte sich nach all den Jahren in der deutschen Fremde hier nun endlich richtig zuhause fühlen. Die unangenehmen Nachbarn nannten wir „Dai Pasty“ und „Dai Gwrw“, was soviel wie „David Pastete“ und „David, der Bierfan“ heißt. Die angenehmen Nachbar*innen lernten wir nach und nach persönlich kennen. Bob hatte von unserer Nachbarin Marlene zu berichten, dass sie alle paar Tage einen anderen Mann zu Besuch habe. Später stellte sich heraus, dass diese Männer Handwerker waren, denn Marlene hatte das Talent, an ihrem aus unserer Sicht schon längst perfekten Häuschen immer noch etwas dringend Verbesserungswürdiges zu finden.

Als uns ein Jahr nach der Geburt meiner Tochter meine Eltern in ein mecklenburgisches Ferienresort einluden, hatte ich gerade beschlossen, ein Drehbuchtreatment zu schreiben, denn ein befreundeter Tonmann hatte gesagt, seine Firma suche gute Stoffe zum Verfilmen. Ich setzte mich also mit meinem Ideen- und Skizzenbuch an den künstlichen See im Resort auf einen stacheligen Steppenpflanzenteppich und dachte darüber nach, wovon mein „Film“ handeln könnte. Es sollte eine Liebesgeschichte sein, denn ich las solche mit großer Begeisterung. Ich brauchte eine Hauptfigur und verfiel auf unsere Gartennachbarin Marlene. Sie war damals ungefähr 42, hatte keine Kinder und auch keinen Geliebten. Beides sollte sie im Verlauf meiner Geschichte gewinnen, doch wer wäre ihr Partner in Spe? Mir fielen ein paar Möglichkeiten aus Filmen ein, wie den Mann von der Bohrinsel in Lars von Triers Breaking The Waves. Außerdem skizzierte ich eine Handlung mit einer Amanda, die sich in den Hauptdarsteller einer brasilianischen Theatertruppe verliebt. Dann endlich kam der passende Geliebte für Marlene meines Weges:

Am Infobrett des Ferienresorts gab es ein Plakat mit geschmückten Elefanten. Es gehörte einem sesshaften Zirkus, der großen Attraktion der Gegend. Wir fuhren dorthin mit Kind und Kegel, und ich hielt meine Augen und Ohren weit offen, denn es konnte nur eine Frage von sehr kurzer Zeit sein, bis meiner Marlene hier auf dem Gelände mit Lamas und Laufenten, Seelöwen und zahlreichen asiatischen und afrikanischen Elefanten ein würdiger Partner entgegen wuchs. Und schwupp, am nächsten Tag kritzelte ich so lange in mein Notizbuch, bis Marlene, die später Melissa heißen würde, eine aufregende erste Begegnung mit dem 14 Jahre jüngeren Elefantentrainer Tobias hatte.

Kurz darauf sah ich, dass ich den Handlungsstrang mit der brasilianischen Theatertruppe streichen musste. Doch das Theater drängte sich durch eine Hintertür wieder in meinen Roman, befeuert durch die stetige Frage einer Schriftstellerfreundin: Na, was macht denn Dein Luttger?

Luttger, ein aus Melissas Perspektive gottgleicher Schauspieler, sollte ursprünglich eigentlich nur in der ersten Szene erscheinen, aber seine Gesellschaft und den Blick hinter die Theaterkulissen, den er mit sich brachte, erschienen mir so spannend, dass Luttger einen eigenen Handlungsstrang erhielt.

Aus dem Stoff wurde dann auch kein Drehbuch, sondern ein Romanmanuskript. In den Nachbargarten neben Marlene zog Rosalia, die die Blumen und Stauden dort kommen ließ, wo sie kommen wollten und daher jenen vormals öden Garten an der Katiestreet innerhalb von kurzer Zeit in einen magischen Ort verwandelte. Rosalia erschien mir auf den ersten Blick eine sehr romantische und liebevolle Person zu sein und ich merkte, es würde mir beim Schreiben helfen, Marlene und sie miteinander zu einer Person zu verschmelzen.

Nachdem ich den Plot zu einem Drehbuchtreatment ausgearbeitet hatte, ließ ich ihn erst einmal zugunsten meines Plots für „Twist!“ liegen, denn ich wusste, dass ich Worte zu sehr liebte, um meine Drehbuchidee in fremde Hände zu geben. Ich wusste, dass ich daraus einen Roman machen musste, und weil ein Traum für mich entschied, dass ich zuerst „Twist!“ schreiben sollte, den ich unter dem Arbeitstitel „Allmutters Töchter“ angelegt hatte, vergingen einige Jahre, bis ich mich wieder an den Marlene/Rosalia-und-der-Elefantentrainer-Stoff setzte. In dieser Zeit aber hatte mein Plot, scheinbar auf eigenes Betreiben und per geistiger Energie, sich an verschiedenen Stellen in Wirklichkeit verwandelt. Marlene hatte einen alten Klassenkamaraden geheiratet, auch der Zirkusartist heiratete und bekam ein Kind mit einer Frau, die, wie ich glaube, nicht aus dem Zirkus stammte, und Rosalia, die zwar wie 50 aussieht, aber schon fast 70 ist, hatte plötzlich einen sehr engagierten und humorvollen älteren Herren bei sich aus- und eingehen. Das mag nach Aberglauben klingen, aber die Macht der Vorstellung wirkt doch über unsere Gartenhecken hinaus, wenn wir dabei sind, eine Welt zu erschaffen. Im Bereich der Gedanken formen wir eine Wirklichkeit, die manchmal sogar auf das echte Leben zurückfeuert, und sei es auch nur in Form festlicher Silvesterraketen.

Und hier kommt für Dich die Aufgabe der Woche, wenn Du magst: Überlege, ob womöglich auch eine Deiner Geschichten schon einmal auf magische Weise die Wirklichkeit beeinflusst hat! Wenn nicht, dann überlege, wie Du Deine Umwelt, oder vielleicht sogar die Welt im Großen und Ganzen verbessern möchtest. Spinne daraus eine Geschichte und vergiss nicht, ein paar Monate später zu schauen, ob vielleicht etwas von Deiner Geschichte wahr geworden ist, oder ob Du auf zauberische Weise die Wirklichkeit ein klein wenig beeinflusst hast!