Neulich saß ich in der U-Bahn und vier Leute setzten sich auf die Bank mir gegenüber. Das war ein richtiger Glückstreffer, denn da saßen: ein dunkel gelockter Jungspund mit seiner Mutter. Beide beugten sich in seltsamer Verschwörung über des jungen Mannes Handy, riefen Videos auf, um sich darüber in lauter Herzlichkeit kaputtzulachen. Dazu setzte sich eine junge Frau mit strengem, dunklem Lockenzopf und einem Baby im Sportwagen. Sehr ernst und konzentriert schaute sie auf ihr kleines Kind. Das Erste, was mir ins Gedächtnis kam: Wo ist ihr Kopftuch? Im nächsten Moment freute ich mich, dass sie so mutig war, keines zu tragen. Das Bild von der Bank gegenüber war in seiner Gesamtsumme höchst erstaunlich: Ein junger Vater kichert mit seiner Mutter über belanglose TikTok-Posts, während seine Frau sich angestrengt und konzentriert um das gemeinsame Baby kümmert. Das Problem ist, dass dieser junge Mann selber ungemein infantil ist und dass er, obwohl er mit seiner jungen Frau gerade ein Baby bekommen hat, die Gesellschaft seiner Mutter vorzieht, anstatt seiner Frau und dem Baby in der schwierigen, neuen Lage zur Seite zu stehen. Und die alternde Mutter des Mannes, die jetzt eine Oma ist, interessiert sich viel mehr für ihren eigenen Sohn und seine belanglosen Interessen, als für ihre neu geborene Enkelin.
Gleichzeitig erinnerte mich dieser junge Mann mit den schwarzen Locken an den Geliebten meiner Jugend, Molo (Name und Herkunft geändert), einen Slowaken, der manchmal davon schwärmte, dass die von Mama vorgewärmte Bettdecke und das nach ihr duftende Kissen doch das Beste auf der Welt wären. Seine Mutter rettete über unsere gemeinsame Zeit ganz sicher nur die Zuversicht, dass auf Dauer ihre eigene Anziehungskraft größer sein musste, als die meine.
Mit diesem schwarzlockigen Molo und seiner Mutter bin ich vor fast dreißig Jahren zusammen gewesen. Seit dieser Zeit sind mir viele Molos an vielen Orten begegnet, allein schon weil es in manchen Berliner Bezirken von Mittelmeermolos nur so wimmelt. Molo war ein ziemliches Früchtchen gewesen und hatte mich nicht gut behandelt, aber ich habe ihn in geradewegs absurder Besessenheit geliebt. Noch viele Jahre danach kostete es mich große Kraft, nicht an ihn zu denken und ihn nicht mit meinen aktuellen Partnern zu vergleichen.
Erst in letzter Zeit habe ich das Gefühl, ihn überwunden zu haben. Ich bin mir gar nicht sicher, wie es dazu gekommen ist. Wahrscheinlich hat das Schreiben dabei geholfen. Er ist in all den Ashers, Rentzen und Tobiassen, die mit Teufelshörnchen oder Engelsfügelchen durch meine Geschichten schlendern, enthalten. So hat sich der Wunsch, ihn noch einmal zu sehen, inzwischen viele Male erfüllt. Trotzdem werde ich vermutlich weiter über ihn schreiben, doch es wird nicht mehr so schmerzhaft sein.
Hier ist für Dich, wenn Du magst, wieder eine Schreibaufgabe: Bei Deinen nächsten Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, schau Dir Deine Mitfahrer*innen von gegenüber an. Wähle zwei oder drei, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zusammen gehören und setze sie zu einander in Beziehung! Mach Dir ein Paar Stichpunkte: Sind sie Cousinen, sind sie ein frisch verheiratetes Paar oder ein Schauspieler und sein Ankleider? Welches Problem haben sie miteinander? Schau Dir am Ende der Woche Deine Notizen an. Welches absurde Paar interessiert Dich am meisten? Schreibe darüber eine Geschichte!