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LITERATURBLOG

Maria durch ein Dornwald ging (11)

Manchmal möchte ich meinen, Weihnachten und Ostern sollten vertauscht werden. Im Frühling sprießt und beginnt alles, das wäre ein guter Zeitpunkt für die Geburt des Jesusbabys. Im tiefsten Winter zur Wintersonnenwende würde ich erwarten, dass Jesus gestorben wäre. Doch Jesus ist im Frühjahr gestorben und am Ostermorgen auch gleich wieder auferstanden und deshalb macht dann Alles doch noch Sinn.

Das kleine Jesuskind im Bauch seiner Mutter spielt zu Weihnachten eine zentrale Rolle. Wir zählen seine Ankunft in Wochen und Tagen, so wie das liebevolle Eltern vor der Geburt ihres Babys tun. „Maria durch ein Dornwald ging“ ist eines meiner Lieblingsweihnachtslieder. Die Zeit der Erwartung muss für Maria dornig gewesen sein. Meinen kleinen Sohn, der im Sommer geboren wurde, habe ich sieben oder acht Monate fast nur im Tragetuch getragen. Er kostete mich eine unglaubliche Kraft, denn er hatte sich, bevor er sprechen lernte, sehr auf’s ausgiebige Schreien verlegt. Im vorweihnachtlichen Winter lief ich über den Friedhof neben dem Haus meiner Eltern. Eis krachte in den Pfützen unter meinen Füßen. Mit meinem kleinen Sohn im Kängurubeutel sang ich „Maria durch ein Dornwald ging“. Ich war diese Maria, mein Weg war dornig. Sie ging durch einen Dornwald, der in sieben Jahren kein Laub getragen hat. Das beschreibt eine lange Dürre und ein enormes Leiden. Ich möchte fast meinen, dass es Maria so wie mir ergangen war. Dass sie nicht die Jungfrau war, die von der Schwangerschaft mit dem Heiland überrascht wurde, sondern dass sie womöglich gemeinsam mit Josef sieben Jahre vergeblich auf ein Kind gewartet hatte. Und als sie dieses nach sieben Jahren dann doch bekam, war das ein solches Wunder, dass sich alle sofort einig wurden: dieses Kind musste ihr von Gott direkt in den Schoß gepflanzt worden sein. Ihr merkt gerade, ich laboriere hier an einer heiligen oder sogar sakrosankten Geschichte herum, aber: eine Schriftstellerin darf das. Lasst auch Ihr Euch das nicht nehmen, wenn Ihr Lust dazu habt!

Wie das Jesusbaby so ist jedes Baby eine wahre Erleuchtung für seine Eltern. Die meisten Mamis und Papis erneuern sich von Grund auf durch die Geburt ihres Babys. Es ist wie die eigene Wiedergeburt. Viele wandeln sich zum Besseren, denn sie begreifen, dass sie nicht nur das Baby lieb behandeln sollten, sondern auch sich selbst, dass beides zusammen gehört. Sie begreifen, dass sie verantwortlich sind für die Welt, in die das Baby hinein geboren wird.

„Da haben die Dornen Rosen getragen.“ Dieses Kind bringt nicht nur Hoffnung und Glück, es macht auch einen inneren wüsten, toten Wald urbar, bringt ihn zum Leuchten und Sprießen.

Als Kind habe ich selbstverständlich den Heiligabend nicht abwarten können. Wir gingen jedes Mal in drei bis vier Christvespern hintereinander. Die Kapelle bei unserem Haus war stets so überfüllt, dass die Leute mit dampfendem Atem noch draußen vor der Türe und im Vorraum standen und lauschten. Ein Herrnhuter Stern baumelte im Bogen über dem Eingang. Ich sang mit dem versammelten Dorf die Weihnachtslieder voller Wucht und Inbrunst. Die Gitarrenkinder meines Vaters schrammelten die Begleitung. An dem von einer Familie aus dem Dorf gestifteten Baum brannten lebendige Kerzen. Es war der einzige Tag im Jahr, an dem auch Heid*innen und Kirchenfeinde sich in unsere Kapelle wagten, wahrscheinlich aus geliebter Kindheitstradition.

Mein Feind aus der Schulklasse saß auch irgendwo hinter mir in den Reihen. Er hatte zu kommen, seine Eltern wollten das, was ihn nie geläutert oder auch nur zu einem versöhnlichen Lächeln gebracht hat.

Der Höhepunkt war das Krippenspiel. Meine Schwester und ich müssen häufig selbst aufgetreten sein. Dennoch erinnere ich mich hauptsächlich daran, dort in der überfüllten Kapelle nach dem Krippenspiel den Hals gereckt und die Ohren gespitzt zu haben. Denn fast immer sprachen die kleinen Marias und Josefs zu leise und leierten ein wenig.

Anlässlich der frisch und vielfach nachgestellten Geburt Jesu dieser Tage möchte ich Dich dazu ermutigen, große Mythen nach Gefühl mit Erlebnissen aus Deinem Alltag zu verknüpfen. Vielleicht hast Du oder eine Deiner Heldinnen schon mal ein Kind in Dir getragen? Vielleicht hast Du Dich schon mal als Dornröschen gefühlt oder möchtest Gilgamesch sein, kampfeslustig und konsequent? Oder Du möchtest den göttinnengleichen Frauen um ihn herum, die Aruru, Ninsun und Ereskigal heißen, ein heutiges Gesicht geben?

Dies also wäre Deine Schreibaufgabe: Nimm Dir einen Mythos oder ein Märchen vor und übertrage sie in Deinen Alltag: Wer könnte Dornröschen sein und was ist das Problem, das sie lösen muss? Hängt vielleicht ihr Blut in ganz entfernter Weise mit dem des Heilands zusammen?

Es heißt immer, Geschichten, hinter denen starke Mythen stehen, können sich besser in der Leser*in verwurzeln. Deswegen sei ruhig mutig und grabe in diesen alten Wahrheiten, verändere die Details, Namen und Orte nach Deinem Gusto und Du wirst sehen, dass eine uralte Geschichte Dir helfen wird, eine neue zu erfinden.