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LITERATURBLOG

Der Zirkus kommt (13)

In unserer Gegend hängen Zirkusplakate: ein junger Mann mit Musketierbart steht auf zwei weißen Pferden. Eine Frau im Paillettenkostüm und hautfarbenen Netzstrumpfhosen sitzt auf seiner Schulter, ihre Beine sind parallel zu Seite gestreckt. Der junge Mann lächelt schief. Etwas hakt mich fest an diesem Foto. Es ist das schiefe Lächeln und dass ich die Frau auf seiner Schulter auf den ersten Blick für seine Mutter halte.

Zum Glück möchte meine Tochter unbedingt in diesen Zirkus gehen. Er hat sein Zelt direkt gegenüber unserem Wohnblock aufgebaut. Alleine hätte ich mich nie dorthin getraut. Als wir das Zirkuszelt betreten, das spärlich besetzt ist, durchkreuzt eine junge Frau in weißem Paillettenkostüm die Manege, offenbar auf der Suche nach ihrem Artistikpartner. Ein Mann, der aussieht, wie der auf dem Plakat, taucht von irgendwoher auf und folgt ihr hinter den Vorhang. Ein Schlagzeug und Harmonium spielen auf. Die junge Frau mit blondem Zopf und weißem Glitzerkostüm wagt sich für uns auf ein Drahtseil.

Ein Artist, der mich an Crazy Carlo erinnert, vollführt einen Handstand auf zwei Stäben. Ihm assistiert wieder eine blonde junge Frau mit langem Haar. Im Verlauf der Vorstellung lerne ich, dass es mindestens drei solcher sich ähnelnden jungen Frauen mit blonden Haaren gibt. Ich gebe mir größte Mühe, sie voneinander zu unterscheiden. Etwa nach der Hälfte der Vorstellung bemerke ich, dass die geschickteste und vielseitigste unter ihnen ein stark hervortretendes Kinn besitzt. Irgendwo habe ich gelesen, dass das Entschlossenheit bedeutet.

In der Pause sehe ich genau diese Frau, die ich Serena nennen möchte, durch die Manege zu einer kleinen Lücke in den Stuhlreihen laufen. Dort steht ein Sportwagen mit einem kleinen Kind darin. Er ist mir vorher überhaupt nicht aufgefallen. Hat Serenas kleine Tochter während der gesamten Zeit seelenruhig den Kunststücken der Mutter zugeschaut und dabei an ihrer Flasche genuckelt? Unvorstellbar. Unvorstellbar auch, dass es niemanden gibt, der sich während der Vorstellung um das Kind kümmern kann. Aber schon im nächsten Moment bin ich bereit, zu glauben, dass Kinder sich an so etwas gewöhnen, denn die Show muss weiter geh’n.

Kurz nach der Pause kommt die aufregendste Nummer des Abends: der Mann mit dem Musketierbart und dem faszinierend schiefen Lächeln betritt die Manege in bescheidener Selbstbewusstheit. Er schwingt sich auf zwei schwarze Pferde, die nebeneinander in der Runde traben. Er selber ist eher zart, aber stark trainiert, und er hebt Serena auf seine Schulter. Das, so müssen wir alle ganz im Geheimen schließen, hat zu diesem süßen Baby da in dem Sportwagen geführt.

Schon in der Kindheit faszinierte mich die leise Erotik des Zirkus. Wenn ein Mann eine Frau hebt, ist das atemberaubend, und vieltausendmal schöner als jeder Filmkuss von Hollywood.

Und hier kommt, wenn Du magst, Deine Schreibaufgabe: Überlege Dir ein paar subtile Möglichkeiten, Erotik auszudrücken, ohne dass sich auch nur irgendwer mit irgendwem küsst, geschweige denn ins Bett geht. Mach Dir ein Paar Notizen zu zwei Menschen, die noch kein Paar sind. Beschreibe Erstens: den Austausch von Blicken zwischen ihnen. Zweitens: ein doppeldeutiges Gespräch. Drittens: eine Geste, mit der eine der beiden Figuren die andere zum Sieden bringt.