Als Kind hatte ich neben Lehrerin, Astrophysikerin und Apothekerin immer wieder den Wunsch, Künstlerin oder Schriftstellerin zu werden. Mein Vater, den ich dazu konsultierte, schien die Kunst mehr als eine Art Hochleistungssport anzusehen: „Nur wer besser ist, als Picasso, darf sich in der Kunst versuchen“, sagte er mir. Inzwischen hat er seine Meinung geändert. Er hat als über 70jähriger das Geige-Spielen erlernt und versucht sich ein, zwei Mal im Jahr im Komponieren von Kanons und Liedern. Dass er dabei naturgemäß meistens nicht an Schubert, Mozart oder die Beatles heranreicht, stört ihn nicht im Geringsten. Dass man natürlich auch erst einmal anfangen muss, um zu sehen, ob man der Menschheit etwas so Wertvolles, wie die „Zauberflöte“ oder „Imagine“ zu schenken in der Lage ist, gehört auf ein anderes Blatt Papier.
Als junger Mensch in der Pubertät war ich sehr blockiert. Ich hatte Gedichte geschrieben, die ich niemandem vorlas. Ich malte Bilder, die ich niemandem zeigte und formte traurige Miniaturskulpturen aus Plastikmodelliermasse. Ich sah, dass ich kein Picasso werden würde, und ehrlich gesagt mochte ich Picasso auch überhaupt nicht. Ich war sehr frustriert und aggressiv. Am liebsten hätte ich mit einer Pistole im Wald auf eine handvoll Farbbeutel geschossen, so wie Niki de Saint Phalle, als sie ihre Schießbilder erschuf.
Ich begann, Theologie zu studieren, weil das etwas war, das ich kannte und weil frau als Pfarrerin ein festes Einkommen haben würde. Ich stellte jedoch fest, dass ich eine starke innere Abneigung gegen das Herumsitzen, Zuhören und Auswendiglernen in Klassenzimmern und Hörsäälen entwickelt hatte. Ich hatte zu lange immer nur Worte in mich aufnehmen müssen, sie einlagern und nichts mit ihnen machen dürfen. Außerdem waren mir meine Mitstudenten sehr fremd, bis auf Crazy Carlo (alle Namen in diesem Blogbeitrag sind geändert), der mit seiner überbordenden Phantasie, seinem völlig abgefahrenen Orgelspiel und seinen zwanghaften Vorstellungen über permanente Missgeschicke im Alltag auch nicht in diese Umgebung passte.
Meine Mitstudentinnen waren zumeist fleißig, ausgeglichen und strebsam und konnten der Bibel, die voller Männergeschichten war, viel abgewinnen. Mich zwickte es, wenn ich im Hörsaal saß und ich musste ständig gähnen.
Eines Tages saß im Altgriechischkurs an der Uni jedoch eine junge Frau mit rothaariger Lockenmähne und knöchellangem Rock und der starken Ausstrahlung einer Bühnenperson. Wenig später traf ich sie in einem Reitercamp vom Hochschulsport bei Gdansk wieder und erfuhr, dass sie Katja hieß. Sie schwärmte davon, dass ihre unfassbar geniale Abiturfreundin Madita ein Theaterstück geschrieben habe, für das sie beide jetzt nach Schauspieler*innen suchten.
So geschah es, dass ich kurz darauf mehrmals in der Woche in den Friedrichshain zu Proben fuhr. Ein Schauspieler im Alter unserer Eltern, zwei junge Dramaturginnen und Madita führten gemeinsam Regie. Ich spielte eine Feministin, die auf offener Szene einen totalen Ausraster hat. Ich lernte, laut herumzuschreien und fühlte mich in dieser Zeit gottvoll glücklich, denn meine Aggressionen, die mich sonst regelmäßig innerlich zerschossen, hatten sich gelegt. Zu unserer Aufführung kamen auch ein paar Studienkolleg*innen, die sich noch während des Applauses verdrückten und mir auch später ihre Meinung über das Stück nicht verrieten.
Der herrliche Nebeneffekt dieser schauspielerischen Zusammenkünfte war, dass sich dahinter noch weitere künstlerische Möglichkeiten verbargen. Wir probten dieses Stück in den Räumen und mit den Mitgliedern eines drogenfeindlichen Vereins. Der war von Künstler*innen aus der ehemaligen DDR gegründet worden, die läuten gehört hatten, dass sich auf diese Weise entspannt ein Einkommen durch Kunst erwerben ließ. Und so luden sie mich dazu ein, auch noch allerlei andere Anstrengungen gegen meinen überhaupt nicht ausgeprägten Hang zu Drogen zu unternehmen. So kam es, dass wir uns kurz darauf regelmäßig mit Madita, Katja und noch ein paar anderen Frauen zum gegenseitigen Aktzeichnen trafen. Die einzige Droge, die uns gefährdete, waren unsere Gespräche. Das Tolle war, dass wir beim Einander-nackt-Zeichnen auf alle möglichen Frauenthemen zu sprechen kamen: den Sex, den wir hatten, oder gerne haben würden, die Namen unserer Körperteile, auch der intimen, unsere Wünsche, Künstlerin oder Schauspielerin zu werden. Oft trafen wir uns bei der Grafikerin Hedda zuhause. Dann kochte sie eine Fenchelsuppe und wir durften an ihrem schrägen Zeichentisch arbeiten. Endlich war ich nicht mehr einsam, endlich hatte ich Freundinnen gefunden, die so waren wie ich, die dieselben Sehnsüchte und Wünsche plagten, wie mich, die wild darauf waren, sich künstlerisch auszudrücken und 24/7 miteinander abzuhängen.
Doch die wichtigste Erkenntnis jener Tage verdanke ich Madita, der selbsternannten Regisseurin und Stand-Up-Komödiantin: Eine Künstlerin ist die, die Kunst macht, eine Autorin ist die, die Texte schreibt, ein Regisseurin führt Regie. Du brauchst nicht auf den Ritterschlag durch andere warten, die Dir vielleicht sagen: „Oh, Du schreibst so mitreißend, willst Du nicht Schriftstellerin werden?“ Nein, wir sind bereits eine Künstlerin, wenn wir Installationen bauen und unsere eigene, innere Welt und auch die da draußen intuitiv und künstlerisch untersuchen. Wir sind das, was wir tun. Und wir Künstler*innen haben einen sehr starken Drang, Sinn in all den Unsinn um uns herum zu bringen.
Deshalb sage ich Dir: Du bist eine Autor*in, wenn Du schreibst und Du brauchst niemand anderen, um das für Dich zu definieren. Kunst ist kein Hochleistungssport, sondern ein Spaziergang in Deinem eigenen, inneren Garten, den Du mit Deinen Zeilen, Deinen Installationen, Malereien und Eskapaden hegst und pflegst, damit er Früchte trägt.
Und hier kommt Deine Schreibaufgabe. Notiere einige Zeilen zu dem Thema: Was war Dein Coming Out als Künstler*in, oder steht es noch bevor? Notiere: welche Menschen sind Deiner künstlerischen und schriftstellerischen Entwicklung wohlgesonnen? Wer befördert oder verhindert sie? Skizziere für Dich eine Strategie, wie Du in Deinem Leben der Kunst und dem Schreiben den größtmöglichen Platz einräumen kannst. Umgib Dich mit Leuten, die dem wohlgesonnen sind und ignoriere die kritischen Meckerer, denn oft sind sie einfach nur neidisch. Schreibe einen Text über Dein künstlerisches Coming Out, oder, insofern es erst dabei ist, einzutreten, schreibe darüber, wie Du es Dir wünschst und vorstellst!