Kategorien
LITERATURBLOG

Der Rhythmus der Großstadt (17)

Ich war ein junges Mädchen von achtzehn Jahren und gerade nach Berlin gezogen. Ein Traum war für mich in Erfüllung gegangen und doch fühlte ich mich häufig ganz ohne Grund unwohl in meiner Haut. Ich war auf der guten alten Suche nach mir selbst und häutete mich offenbar. Leider war ich dabei oft einsam. Mit meinen Kommiliton*innen aus der Sektion Theologie hatte ich nicht viel gemein, so freundlich sie auch waren. Ich hatte keine Freunde in Berlin, außer Crazy Carlo, der manchmal kam und manchmal nicht. Häufig war er ganze vier Wochen verschwunden und erzählte danach, das läge daran, dass die Mafia ihn verfolge. Ich wusste nicht, wie ich ihm helfen sollte und wartete nur immer weiter auf sein Erscheinen.

Fast jeden Abend ging ich ins Kino, um nicht so allein zu sein. Ich mochte französische Filme (Chabrol und Carax) und die von Krzysztof Kieślowski. Mit den meisten Hollywoodfilmen konnte ich damals nichts anfangen. Die Frauen darin waren mir zu aufgekratzt, die Ästhetik zu unkünstlerisch. Die französischen Filme dagegen waren warm ausgeleuchtet. Es ging um Liebe und Romantik, ein Thema, das mich schon seit Kindertagen interessierte. Sie waren außerdem in einem schönen, intuitiven Rhythmus geschnitten. Ich stopfte mit diesen Filmen eine Lücke, die in meinem Leben klaffte. Denn Rhythmus war genau das, was in meinem Leben fehlte. Ich meine damit nicht den Tagesrhythmus, das Immer-zur-gleichen-Zeit-aufstehen und Ins-Bett-Gehen, denn das war okay. Nein, ich meine, wie der Film meines Lebens geschnitten war, das war Schrott. Wenn ich tagsüber in der Stadt unterwegs war, drangen überflüssige Blicke auf mich ein. Ich als Kleinstadtmädchen hatte mich noch nicht daran gewöhnt, ihnen auszuweichen. Und wenn ich meinen Blick gesenkt hielt, dominierten hässliche Details, wie Hundekot, platt gewalzte Kaugummis und zerbrochenes Glas meine Wahrnehmung.

Saß ich jedoch in der S-Bahn und schaute aus dem Fenster, schnitt eben dieses Fenster für mich den Film, der dahinter ablief, in einem ganz eigenen Rhythmus. Mich durchleuchtete die Erkenntnis, dass ich mit meinen eigenen Augen den Film meines Lebens selber schneiden kann. Das Einzige, was ich dazu brauchte, war Musik. Eine Schwäche meines über alles geliebten Vaters war es, dass er mir andauernd vorbetete, wie unmusikalisch ich sei. Deswegen traute ich mich nicht einmal, für mich selbst zu singen. Auf den Proben unserer neu gegründeten Theatertruppe sang Bea „Nur nicht aus Liebe weinen“. Dieser Song ging mir immerzu im Kopf herum, und da hatte ich ihn endlich: den Rhythmus für meinen widrigen Alltag. Ich begann, mir die Bilder vor meinen Augen nach dem Rhythmus dieses Liedes zurechtzuschneiden. So ließ sich die Wirklichkeit ertragen.

Auch für eine Kurzgeschichte oder eine Romanszene ist es wichtig, dass sie in einem bestimmten Rhythmus geschnitten ist. Besonders wichtig ist auch der Rhythmus in Dialogen.

Deshalb möchte ich Dich heute dazu anregen, Dir mal eine unfertige Kurzgeschichte, die Du noch in der Schublade hast, vorzunehmen, und sie neu zu verschneiden. Versuche ruhig einmal, Dinge von weiter hinten nach vorne zu verlegen. Wage es, etwas Wichtiges herauszuschneiden oder vielleicht sogar wegzulassen, um die Geschichte ins Rätselhafte zu treiben. Lies Dir diese Geschichte unbedingt laut vor, damit Du ihren Sprachrhythmus spüren kannst. Falls Du diese Aufgabe nicht magst, nimm Dir einen Dialog vor, den Du schon einmal geschrieben hast. Lies ihn Dir laut vor und ergänze ihn! Lass ihn ausufern, lass die Figuren labern und sie dann zum Punkt kommen. Lies Dir diesen Dialog laut vor und verschneide ihn, bis er gut ist und filmreif klingt!