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LITERATURBLOG

Die wa(h)re Illusion (36)

Ich habe seit jeher einen Spleen für heruntergekommene, alte Gebäude gehabt, mit blätterndem Putz, knarrenden, in Ochsenrot gestrichenen Dielen und den doppelten Fenstern mit Messinggriff, durch die leise der Wind pfeift. Ich mochte immer sehr die leise Traurigkeit darin. Jetzt frage ich mich, ob sich in mir etwas geändert hat, denn ich war neulich zu einem Coronatest im SEZ, einem ehemaligen Sport- und Erholungszentrum an der Landsberger Allee, das japanische Architekten in den Achtziger Jahren für die DDR gebaut haben. Es war das einzige seiner Art im ganzen Land, und wenn wir aus der 130 km entfernten Kleinstadt auf Klassenfahrt nach Berlin kamen, stand mein Vater, der sich im Elternaktiv für unsere Klasse engagierte, dort zwei Stunden für uns Schlange, damit wir uns dann endlich alle in die Fluten des Wellenbads und unter die Pilzhüte der Wasserstrudel stürzen konnten.

Obwohl ich nun in der Vergangenheit immer mit Genuss vor sich hindämmernde, alte Gebäude zerfallen sehen habe und sie sich anfühlten, als seien sie meine Verwandten, kann ich mich jetzt partout nicht dazu bringen, mich daran zu freuen, dieses wundervolle SEZ kurz vor dem Abriss zu sehen. Viele Details im Foyer des Gebäudes sind handgemacht. Als ich die Türen aus durchsichtig lackiertem, massivem Holz sah, konnte ich auch die Hand des Tischlers sehen, der sie mit einem Sandpapierblock und liebevoller Hingabe am Schluss noch einmal abgeschmirgelt hat. Ich konnte sehen, dass jeder Vorraum, jede Zwischenwand, die die Japaner und ihre DDR-Kollegen zeichneten, den Hochgenuss des Schwimmsports feierten, den wir Bürger*innen eines unterprivilegierten Landes darin haben sollten.

Jetzt sind die Außenfenster verbarrikadiert und die Schwimmbecken im Innenraum mit Spanplatten abgedeckt. Die junge Frau, die im leeren, weitläufigen Testzentrumsfoyer lautlos, wie ein Geistwesen von hinter den Testkabinen erschien und nur englisch sprach, wirkte wie eine Künstlerin, die das Ritual des Wattestäbchendrehens in der Nase eigens für diesen Ort erfunden hatte. 1984 habeen wir regelmäßig nach dem Schwimmen unsere Zeigefinger in den Ohren gedreht und sind dazu auf einem Bein gehüpft, um den Druck des Wassers darin loszuwerden. Jetzt ließ ich mir von dieser Königinfee des zum Abriss freigegebenen Schwimmpalasts in der Nase kitzeln unter der Gefahr, dass beim nächstens Niesen der Traumpalast bereits in sich zusammen fällt.

Jessica Falzoi spricht in ihrem Buch „Creative Writing“ von einem Vertrag mit dem Leser. Du als Autorin versprichst der Leser*in, die Illusion Deiner Geschichte durchgängig aufrecht zu halten und sie nicht zu brechen. Gleichzeitig versprichst Du eine Geschichte mit hohem Wahrheitsgehalt. Beide, Leser*in und Schreibende*r bauen gemeinsam diese Illusion auf. Deine Leser*in sieht Bilder aus ihrer Kindheit und Jugend, sie baut mit einem Wimpernschlag ein Panorama aus Orten, an denen sie einmal gewesen ist, und mit denen sie Deine Geschichte ausstaffiert. Sie bringt ihre eigene Lebenserfahrung mit ein, ihre Erfahrung mit Menschen und der menschlichen Natur. Arbeite in Deiner Beschreibung von Orten und Menschen deshalb möglichst auch mit poetischen Bildern. Das ist verdichtete Sprache, die eine große Möglichkeit an Vorstellungen erzeugt. Zu kleinteilige Beschreibungen von Orten und Personen brauchen wir heutzutage nicht mehr, da wir aus unserer Kindheit und Vergangenheit und auch aus Film und Fernsehen jede Menge Bilder in uns haben. Hinzu kommen noch Träume, die es interessanterweise immer wieder schaffen, uns an Orte zu führen, an denen wir noch nie gewesen sind. Wir Autor*innen wollen unsere Leser*innen zwischen Traumwelt und Erinnerung abholen und dabei müssen wir ein wenig zaubern.

Aufgabe: Nimm Dir nochmal eine Deiner in der letzten Zeit geschriebenen Geschichten vor. Schau, ob jedes Element, das Du eingeführt hast, für Deine Geschichte einen Sinn hat. Wenn Dir etwas dröge oder trocken vorkommt, versuche, „zu zaubern“ und Bilder zu finden.

In eigener Sache: Diesen Blog möchte ich an dieser Stelle vorläufig beenden, denn ich habe das, was ich sagen wollte, erst einmal gesagt. Vielen Dank für’s Mitlesen! Ich wünsche Dir viel Freude und Inspiration beim täglichen Weiterschreiben!