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LITERATURBLOG

Über Rehe und Menschen (22)

„Da sind wieder Rehspuren vor dem Tor“, sagt mein Vater, „Sie sind gekommen, haben gesehen, dass das Tor zu war und sind wieder gegangen.“ Ja, die Rehe sind eigensinnig. Sie gehen und kommen gern, wie und wann sie wollen. Sie springen an der Rückseite des elterlichen Grundstücks über den Staketenzaun und grasen jeden noch so kleinen Trieb ab und im Frühling mit besonderem Genuss den frisch gesprossenen Salat. Dabei schauen sie ganz arglos, denn sie sind sich keiner Schuld bewusst.

„Die Ricke ist jetzt trächtig. Im Mai wird sie zwei bis drei Kitze werfen“, sagt mein Vater.

Wir alle sind durchaus geneigt, Mitleid mit dem Rehpäärchen zu haben. Sie laden sich zwar in unseren Garten ein, aber wenn wir sie ansehen, wie sie da so graubraun und scheu und in aller Selbstverständlichkeit zwischen dem Efeu grasen, dann wissen wir, dass sie es sind, die hierher gehören und nicht wir.

Die Rehe grasen gerne am früheren Kaninchenstall. Als meine Eltern in dieses Haus einzogen, brachten ihnen die Nachbarn als Willkommensgeschenk zwei lebende Kaninchen.

Als mein pazifistischer Vater nun in der Weihnachtszeit den Kaninchen mit dem Axtstiel einen Schlag hinter die Ohren versetzen sollte, um sie darauf mit einem Schnitt durch die Kehle zu töten, wurde ihm sehr mulmig. Er zauderte: Sollte man die Nachbarn um Assistenz bitten? Ihnen die Aufgabe aufhalsen und dafür einen der beiden Kaninchenkadaver überlassen? Er entschloss sich, das Schlachten selbst zu übernehmen, schließlich war er ein Junge vom Lande und hatte Bruder und Tante in seiner Kindheit beim Schlachten zugesehen. Das fast tote Kaninchen, das er an den Hinterpfoten an die Schuppentür binden musste, zuckte um sein Leben, als er es aufschnitt, und selbst noch, als er die Gedärme herausnahm. Blut sickerte in die Erde neben seinen Füßen. Das Kaninchen war warm und hatte nicht sterben wollen.

Einmal und nie wieder, schwor sich mein Vater. So blutbefleckt und meuchelmörderisch war er sich sein Leben lang nicht vorgekommen. Wäre ich die Kaninchenmörderin gewesen, dann irrlichterte dieses Erlebnis noch heute durch meine Albträume. Mein Vater aber riss ganz einfach die Kaninchenställe ab und in unserer Familie ward nie wieder davon gesprochen.

Dieses Verbrechen gegenüber den arglosen Kaninchen, hat seine Tierliebe gestärkt, so dass er jetzt die neugierigen Rehe, wenn sie im spätwinterlichen Garten grasen, ganz vorsichtig fotografiert und es ihnen auch nicht übel nimmt, wenn sie einen von ihm selbst eingesetzten Kiefernschößling zermalmen. Er lässt ihnen im Winter häufig das Tor auf, damit sie sich bei uns laben können.

Wie mein Vater die Rehe auf unseren Hof einlädt, so lade auch ich Figuren in meine Geschichte ein. Im Moment arbeite ich an einer stark autobiografisch geprägten Erzählung, in der mehrere meiner skandinavischen Freund*innen auftreten werden, denn ich möchte über eine Zeit vor über 20 Jahren schreiben, in der sich ihr Schicksal in Helsinki mit meinem verflocht.

Ich werde also ein halbes Dutzend Freund*innen fragen müssen, ob sie damit einverstanden sind, dass ich mir ihre Geschichten leihe. Ich weiß schon, dass es zwei Freunde gibt, die mir das nicht erlauben werden. Sie sind ein wenig narzisstisch und denken, die ganze Welt dreht sich um sie und wird unwiderrufleich aus den Angeln gehoben, wenn ich sie, das Zentrum dieser Welt, „falsch“ darstelle. Aber ich habe da schon eine Idee, wie ich das Problem lösen kann. Ich werde keinem von ihnen sagen, dass ich über sie schreibe. Ich werde sie zu einem Charakter verschmelzen, und wenn sie sich dann, wenn das Buch fertig ist, darin wiederzuerkennen glauben, sage ich: „Nein, nein, damit ist der andere gemeint.“

Je besser ich die Menschen kenne, die mir Inspiration für meine Romanfiguren geben, desto härter muss ich daran arbeiten, ihnen in meinem Werk ein neues Leben zu verleihen. Dabei empfiehlt es sich, nicht nur die Namen, sondern auch die Charaktere und Ereignisse so zu verfremden, dass ich die Privatsphäre der Person, die mich inspiriert hat, schütze. Und das tut auch meiner Geschichte gut. Sie wird dann freier und ihr wachsen Flügel.

Und hier kommt Deine Aufgabe: Ruf eine Freund*in an, die Dich in letzter Zeit inspiriert hat. Frage sie, ob Du aus ihrer Geschichte eine Erzählung machen darfst. Versprich ihr, dass Du Namen und Orte änderst und die Situation verfremdest. Biete ihr an, dass Du ihr die Geschichte, wenn sie fertig ist, zu lesen gibst. Nun vereinbare ein Interview mit ihr an einem ruhigen, Vertrauen schaffenden Ort. Bereite einen Fragenzettel vor und vergiss nicht, ein Aufnahmegerät oder Smartphone mitzunehmen. Wenn Du magst, mach Dir während der Aufnahme zusätzlich noch Notizen! Schreibe dann, wenn Du wieder zuhause bist, munter und mutig drauflos und scheue Dich nicht, Ereignisse und Charaktere so umzumodeln, dass sie in Deine Geschichte passen!