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LITERATURBLOG

Der Personenbriefumschlag (34)

Wenn wir uns in jemanden verlieben, dann gehen wir als richtige Künstler zu Werke und projizieren mit Verve wunderbare Eigenschaften in das Objekt unserer Liebe hinein. Der Angebetete ist dann sofort unglaublich witzig, unglaublich charmant, hat all das, was wir nicht haben und sieht überirdisch gut aus. Es ist auch kein Wunder, dass die Liebe so kreativ macht und dass frisch Verliebte zum Beispiel gerne Gedichte schreiben. Denn die Liebe ist eine Vorstufe zum Wahnsinn, der entfesselte Erfindungskraft bedeutet und eine Prise davon ist auch für die Kunst von Nutzen. Jemand, den wir noch nicht genug kennen, ist die ideale Projektionsfläche für unsere Träume.

Bis vor Kurzem gehörte eine gute Menschenkenntnis zum festen Teil meines Selbstbildes. Ich glaubte daran, dass ich, wenn ich einen Menschen zum ersten Mal sehe und ein wenig Zeit mit ihm verbringe, ihn binnen Kurzem vollständig lesen kann und ihm dementsprechend vertraue oder nicht vertraue. Diese Überzeugung zerstob in Rauch und Ruß, als vor ein paar Monaten Musikerfreunde von mir ein Blind Date für mich organisierten. Ein Mann in meinem Alter, schlank und groß, nennen wir ihn Warren aus Liverpool, wartete auf mich vor einem Kinocafé in Neukölln. Er begrüßte mich mit: „Wir können da nicht reingehen, ich hatte eine Auseinandersetzung mit dem Barmann wegen der Coronamaske.“ Ich hatte mir vorgenommen, keinerlei Vorurteile zu haben, Alles unglaublich locker zu nehmen und selbst höchst unterhaltsam zu sein, kurzum, mich von meiner Intuition leiten zu lassen. Alles lief zunächst ganz gut. Wir setzten uns in ein surinamisches Restaurant, bestellten Minigerichte. Mir schmeckten sie nicht, also aß Warren sie alle alleine auf, als ob wir uns schon jahrelang kennten. Er erzählte von seinen Musikprojekten und Rockkompositionen, spielte mir etwas vor, das ein wenig weinerlich klang, aber einen sehr berührenden Text hatte. Warren gefiel mir an diesem Abend sehr gut. Er war voller Stories und verrückter Bonmots, so dass ich dachte, ich bin zurück im Künstlerdorf Bröllin Anfang der Neunziger Jahre. Dort hatte es den Amerikaner Sam mit der indianischen Mutter gegeben, der seine pointierten Geschichten voller Selbstvertrauen und großer Gesten erzählte, so dass mir regelmäßig der Mund offen stand. Dort gab es Butohtänzer*innen aus Japan, ein brachiales anarchistisches Theater aus Kreuzberg, das einen hohen Verschleiß an röhrenden Riesenautos hatte. Es gab Musiker aus Dänemark, die sich über Alles und jeden lustig machten und eine Experimentalfilmerin, der ich gerne bei ihren Filmdrehs im Kornspeicher half.

Mir schien das Alles so phantastisch, als ob ich in ein Land voller Wunder und Märchen geraten war. Im Nachhinein würde ich sagen, je weniger ernsthaft die Leute dort ihre Kunst betrieben, desto lebhafter bauschten sich ihre Erzählbögen im Gewölbesaal der Gemeinschaftsküche. Aber ich liebte ihre Geschichten und Aufschneidereien. Und als mich also Warren aus Liverpool dorthin zurück trug, war ich begeistert und sah mich ihn schon meinen Freund*innen auf Vernissagen und Konzerten vorstellen. Ich wunderte mich zwar, dass ihn seine erwachsene Tochter nicht mehr sehen wollte, doch schob ich dieses Detail erst einmal beiseite, denn er faszinierte mich ungemein.

Als ich ihn jedoch eine Woche später zum zweiten Mal traf, wendete sich das Blatt. Er schien mir plötzlich, wie ein von Grundauf verwandelter Mensch. Er redete ununterbrochen herabsetzend über seine musikalischen Partner, hatte den Ehrgeiz, sich als großartig darzustellen, als ob dies ein Wettbewerb wäre und er mich nicht nur beeindrucken sondern sogar übertrumpfen müsse. Dann redete er darüber, dass er nicht verstehen könne, warum Frauen immer so viel Bestätigung wollten. Als sei dies ein Obolus an Energie, den er nicht zu zahlen bereit sei. Ich wunderte mich über soviel energetischen Geiz, wo doch eine Beziehung immer auch ein lebendiger Austausch von Wohltaten und Bestätigung ist. Ein paar Biere später begann er, grausige Geschichten über brüderlichen Zwist und einen Mord in seiner Familie zu erzählen. Er sprang mit seinen Geschichten von hier nach dort und konnte gar nicht mehr aufhören, das Gruseligste vom Gruseligen zu offenbaren. Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit in Bezug auf Dates, dass man am Anfang möglichst nicht zu viel von sich preisgibt. Mir schien, das gälte besonders, wenn man ein so gruseliges Inneres, wie dieser Warren vorzuweisen hat. Ich schaute vermehrt auf die Uhr meines Handys und überlegte, unter welchem Vorwand ich mich wohl vom Acker machen könnte. Ich kniff die Tischplatte und litt mit kaltem Schweiß unter der Schwere seiner Geschichten. Noch dazu bekam ich nicht einmal die Gelegenheit, mich einfach und formlos zu verabschieden, denn Warren wollte partout nicht aufhören, zu reden. Hinzu kam, dass er andauernd wechselnde Gesichter zeigte. Mal sah er aus wie Eilif, der eitle Künstlerprinz und Freund von mir aus Stockholm, dann wieder wie jemand, dem man mehr vertrauen kann, als dem eigenen Bruder, dann wie ein junger, unschuldiger Barde und dann wieder wie ein Monster.

Es stellte sich heraus, dass er schon 30 Jahre in Berlin lebt und deshalb sehr gut Deutsch spricht. Ich ergriff diesen Strohhalm und wechselte ins Deutsche, in der Hoffnung, dadurch auf sein wahres Ich zu stoßen und von den flickernden Wechselgesichtern verschont zu bleiben. Dies war jedoch nicht der Fall. Ich schaffte es, mich endlich aus dieser schauderhaften Situation mit ein paar unschuldigenden Sätzen zu befreien. Noch Tage später hatte ich ein Trauma von dieser Begegnung. Zurück in meinem Leben, atmete ich auf, glücklich über meine weißen Seiten Papier und über meine eigenen Figuren, bei denen ich genau weiß, wie sie ticken. Denn sie sind, und seien sie auch noch solche Strolche, immer auf meiner Seite, schließlich stammen sie ja auch von mir ab. Und es liegt ganz allein in meinen Händen, ob es ein Happy End gibt, ob Menschen zusammen kommen, oder sich trennen, und ob sie das erhalten, was sie am meisten brauchen.

Bei der heutigen Übung wollen wir uns um die Erschaffung solcher, uns genehmer Charaktere, kümmern. Vielleicht hast Du schon bemerkt, dass Du, wenn Du für Deine Charaktere Personen zum Vorbild nimmst, die Du sehr gut kennst, es nicht leicht hast, daraus eine Fiktion zu erschaffen. Ich möchte Dir deshalb empfehlen, Personen zum Anlass zu nehmen, die Du nicht genug kennst. Eine gutes Werkzeug dafür ist der Personenbriefumschlag. Du sammelst Zeitungsbilder von Personen, Flohmarktfotos, Bilder von Porträtgemälden und bewahrst diese in einem Umschlag auf. Außerdem legst Du Dir einen zweiten, großen Briefumschlag mit Fotos von Orten an, die intuitiv zu Dir sprechen. Wenn Du dann einmal für eine Deiner Geschichten nach Ideen suchst, ziehe blind ein bis zwei Fotos aus dem Personenbriefumschlag und eines aus dem Ortebriefumschlag. Fühlst Du, dass Dich das zu sehr einschränkt, dann breite alle Deine Fotos auf dem Schreibtisch aus und wähle nach Gusto. Skizziere mit diesen Figuren und der gewählten Umgebung eine Geschichte!