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LITERATURBLOG

Die Sieben Geheimnisse der Liebe zu einer Figur (33)

Als ich eines Abends feststellte, dass ich mich überhaupt nicht dazu bringen konnte, den Riesenberg an Abwasch zu erledigen und die Wohnung zu fegen, kam mir in den Sinn, wie schön es wäre, jemanden zur Hilfe zu haben. Da ich zu jener Zeit viel Tschechow las, trat Servil vor mein inneres Auge, ein betagter, russischer Diener. Ich erhob mich also flugs und erledigte meine Hausarbeit im Geiste als Servil, ließ mich dann auf das Küchensofa plumpsen und überlegte, wie ich mich bei ihm bedanken könnte.

Servil ist recht groß, geht leicht gebeugt und ist ziemlich schweigsam. Er erledigt auch die unangenehmsten Sachen für mich, stoisch und kommentarlos, denn so ist er das gewöhnt, da er immerhin mindestens 200 Jahre alt ist und schon zu Zarenzeiten gedient hat. Ich habe natürlich auch ein schlechtes Gewissen, denn sollte nicht lieber ich, als noch immer junge Frau, mich um so einen vor sich hinwitternden Greis kümmern? Und was ist mit der Bezahlung? Er lebt, wie das zu Zarenzeiten üblich war, einfach bei mir im Wandschrank und arbeitet für Kost und Logis. Und dabei isst er nichts und braucht auch nicht einmal diesen Wandschrank. Denn wenn die Arbeit erledigt ist, verschwindet er auf rätselhafte Weise irgendwohin, vielleicht zu seiner Schwester oder einer befreundeten Concierge. Ich habe ihn auch im Verdacht, dass er, wenn er nicht bei mir ist, noch andern Ortes Gutes tut, wie unter Obdachlosen oder Alkoholikern. Er ist ein sehr gutmütiger Greis, sehr zäh, kennt Alles, weiß Alles, aber er redet nicht viel. Er ist tolerant gegenüber meinen Launen. Er akzeptiert von Grundauf meine Lebensweise, und er hat die vorteilhafte Eigenschaft, dass er sich sehr diskret zurück zieht, wenn er merkt, dass ich ihn im Moment nicht brauche. Wie ich ein Buch einfach zuklappe, so verschwindet auch Servil häufig für eine Weile aus meinem Leben. Er ist nur dann da, wenn ich an ihn denke.

Unsere Figuren sollten wir lieben und ich mag Servil tatsächlich sehr gern. Aber wie sieht nun genau diese Liebe zu unseren Figuren aus? Ich habe herausgefunden, dass sie viel mit der Liebe zu einem anderen, realen Menschen zu tun hat. Laut diverser Beziehungsratgeber, gibt es sieben Dinge, die hierbei wichtig sind:

Erstens: Sich Reindenken in den anderen und mitfühlen. Das tun wir als Erzähler*innen mit jeder Zeile, die wir über eine Figur schreiben.

Zweitens: Zuhören und durch lange Gespräche einander kennen lernen. Das heißt für uns zum Beispiel, unsere Figur monologisieren und über sich selbst erzählen zu lassen.

Drittens: Bereit zu sein, den anderen zu idealisieren und gute Eigenschaften (aber auch manche Macken) in ihn hineinzuprojizieren. Das geschieht von ganz alleine, wenn Du als Autor*in über die Charakterzüge Deiner Figur nachdenkst.

Viertens: Gemeinsame Erlebnisse. Das sind die Dinge, die einer Figur im Verlaufe einer Geschichte passieren. Die Autor*in und die Figur erleben sie gemeinsam und wachsen daran.

Fünftens: Spontanteität im Alltag. Wir schreiben der Figur ungewöhnliche Erlebnisse, ungewöhnliche Umgebungen auf den Leib, damit wir weder uns selbst noch unsere Leser*innen langweilen.

Sechstens: Du selbst sein. Beim Schreiben lernst Du Dich selbst kennen und zwar auch deshalb, weil alle Figuren, die Du erschaffst, ein Teil von Dir sind. Du solltest also beim Schreiben möglichst nahe an Dir dran bleiben. Eine wirksame Methode dabei ist, das zu schreiben, was Dir zuerst in den Kopf kommt. Eine andere ist, Deine Ideen ernst zu nehmen und sie nicht abzuwerten.

Siebtens: Den anderen so sein lassen, wie er ist. Manchmal entwickelt sich eine Figur anders, als du planst. Gib dem Raum. Manchmal will die Hauptfigur ein Bösewicht sein. Sorge dafür, dass sie ein liebenswerter Bösewicht wird.

Und hier kommt für Dich eine Schreibaufgabe: Versuche, an eine Person zu denken, die Du nur flüchtig kennst, die Dich aber fasziniert. Schreibe als diese Figur tagebuchartig ein, zwei Seiten. Notiere, wen sie trifft, welche Ängste, welche Vorlieben sie hat. Wenn Dir das schwer fällt, dann denke an einen Promi, den Du magst, und mach ihn zu einer Figur, die Du schreibend erforschst.

Jetzt denke Dir aus, wie die Figur, die Du Dir soeben ausgemalt hast, sich mit Dir trifft. Notiere ein Gespräch zwischen Euch. Lass etwas passieren und beschreibe dieses gemeinsame Erlebnis! Schau am Schluss, welches Band sich zwischen Dir und Deiner Figur entwickelt hat!