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LITERATURBLOG

Impressionismus (31)

Neulich besuchte ich eine befreundete Künstlerin, die mit ihrem neunjährigen Sohn in einem 50er-Jahre- Genossenschaftsbau in drei knapp zugeschnittenen Zimmern lebt. Sie übernachtet zur Zeit häufig gemeinsam mit ihrem Kind im Garten und hält sich nur noch selten zuhause auf. Die Wohnung gefiel mir plötzlich um Einiges besser, als bei meinem letzten Besuch im Winter. Alles war vernachlässigt, Kartons türmten sich im Kinderzimmer und verwandelten den Weg zum Balkon in einen Slalomspaziergang. Die Frühlingssonne, die durch die frisch belaubten Bäume im Hof in das Zimmer brach, schickte ein bewegtes Licht auf Bett und Sofa und auf das kreative Chaos des kleinen Sohnes, seine selbstgebauten Welten aus Pappe, seine Kuscheltierarrangements und die herumliegenden Kleidungsstücke.

Die Wohnung hatte für gewöhnlich ein wenig eng auf mich gewirkt, aber durch die allgemeine Verwahrlosung, die sich sämtlicher Zimmer bemächtigt hatte, erschien sie mir jetzt weit und leer. Der warme Frühlingswind wehte beschriebene Blätter und Zeichnungen über den Boden, die bunten Seidengardinen an den Fenstern bewegten sich sacht. Das Draußen trat nach drinnen und umgekehrt.

Ich hatte schon öfter beobachtet, dass hohe Räume in Altbauwohnungen, die nach der Mode der zweitausender Jahre von Tapeten befreit und vielleicht nur hier und da mit einer Musterrolle dekoriert worden waren, so wirkten, als lebten die Bewohner in einem riesigen Schloss. Denn wer kann schon alle 117 Zimmer eines Schlosses in Ordnung halten, säubern und sorgfältig dekorieren! Und so schien mir jetzt diese eigentlich recht einfach geschnittene Wohnung meiner Freundin wie ein kleiner Teil eines riesigen Palastes, und das Alles dank dessen, dass sie es nicht geschafft hatte, Ordnung zu halten. Das berühmte kreative Chaos in einer Künstlerwohnung – zugegeben, ich habe in meinem Leben weitaus mehr aufgeräumte Künstlerwohnungen als chaotische gesehen – kam hier voll zur Wirkung. Der Trick dabei ist, dass überall noch genug Platz bleiben muss, um hindurchlaufen zu können. Dann wird diese gewisse Vernachlässigung zu einer vornehmer Lässigkeit und erzeugt das Gefühl einer wohltuenden Leere.

Und hier kommt eine Aufgabe für Dich. Mach es wie die impressionistischen Maler im Frankreich des 19. Jahrhunderts: ziehe hinaus mit Deinem Notizblock und spaziere so lange umher, bis Du einen Platz mit einer guten Aussicht gefunden hast. Das kann eine Parkbank sein, von der aus Du einen Blick auf einen glitzernden Teich mit Schwänen hast. Das kann ein Café sein, in dem Du in Ruhe sitzen kannst, um die kuriose Einrichtung zu beschreiben. Vielleicht möchtest Du Dich, wenn Du auf dem Land bist, ans Ufer eines Baches setzen und beschreiben, was Du siehst: die Farben, die Geräusche der Natur und die Gerüche. Werde eine Maler*in mit Worten und zeichne Dir auf diese Weise ein Bild. Wenn Du möchtest, führe Figuren ein, die in Deiner „frisch gemalten“ Kulisse interagieren. Vielleicht wird daraus ja eine Geschichte!