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LITERATURBLOG

Rosen und Jugend oder der Brieferausch (29)

Meine Cousine Bianca aus Berlin habe ich in der Kindheit nur selten sehen können. Einmal aber haben unsere Eltern es geschafft, unser beider Ferien (die damals noch DDR-weit auf denselben 8 Wochen lagen) so zu planen, dass wir gemeinsam zu meiner Oma auf’s Dorf zur Erholung fahren konnten. Wir genossen das Landleben, gingen in den Konsum, um Eisdrops zu kaufen, gingen in das Gasthaus, um in Silberpapier verpacktes Eis am Stiel ohne Stiel zu kaufen. Wir sprühten die Stallmütze unseres Onkels mit Parfüm ein. Wir stromerten im Wald umher und genossen die ländliche Freiheit. Wir fühlten uns einander verbunden, da wir doch Cousinen waren. Später sahen wir uns nur noch selten. Heute lebt Bianca weit weg von Berlin und der Kontakt zwischen uns ist abgebrochen.

Damals jedoch teilten wir das Interesse am Zeichnen und an Büchern, und in etwa im Alter von 11 Jahren fingen wir an, einander Briefe zu schreiben. Dabei wurde es recht bald wichtig, dass der Antwortbrief jedes Mal länger geriet, als der soeben erhaltene Brief. Wir standen miteinander in begeistertem Wettbewerb und schrieben in großer, raumgreifender Schrift auf bonbonfarbene Zettel, fügten manchmal Zeichnungen, Passfotos, Abziehbildchen oder gar glitzernde Westaufkleber hinzu. Wir erfanden schon damals, was heute als kreative Schreibtechnik weit verbreitet ist: so schnell und so viel wie möglich (fast) ohne Nachzudenken zu schreiben. Ohne Zögern zumindest und ohne Zensur flossen die Worte auf das Papier. Ich saß an meinem sonnenbeschienen Schreibtisch und berauschte mich am säuerlichen Duft des Papiers, meinen Ideen und dem kratzigen Geräusch der Feder auf den bunten Zetteln. Das Rascheln der vielen, kleinen Blätter, wenn ich sie in einen holzfarbenen Briefumschlag steckte, bereitete mir ein solches Wohlbehagen, dass klar war, dass ich es sobald wie möglich wiederholen musste. Der Erhalt eines Briefes mit der Post, die Freude darüber, blieb immer ein gutes Stück hinter der Freude zurück, mich selbst auf dem Papier ausdrücken zu dürfen. Es war auch nicht wichtig, ob viel passiert war in der Zwischenzeit, über das wir hätten berichten können. Nein wir beide hielten uns für so virtuos, dass wir uns imstande sahen, auch aus Nichts ganze 15 Seiten Schrift am Stück zu produzieren.

Ich muss unbedingt bald einmal wieder im Keller meiner Eltern kramen, um zu wissen, was für eine Welt das genau war, über die wir einander so leidenschaftlich berichteten. Und auch der Austausch mit einer gleichaltrigen Cousine muss nicht für immer versickert sein, vielleicht frage ich sie gleich einmal, ob sie meine Briefe aufgehoben hat.

Und hier kommt wieder eine Schreibaufgabe für Dich: Versetze Dich zurück in Deine Kindheit und schreibe einen Brief an eine Person, die Dir wichtig war, oder mit der Du damals in Briefkontakt gestanden hast. Schreibe völlig unzensiert und ohne überhaupt nur nachzudenken über Dinge, die Dich heute bewegen und gehe dabei davon aus, dass Deine Brieffreundin sich über jedes Deiner Worte freuen wird. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: a) Mache Deine damalige Brieffreundin oder Lieblingsperson über die sozialen Medien aus und frage sie, ob sie noch einmal einen Papierbrief von Dir bekommen mag. b) Versetze Dich in Deine Briefpartnerin oder Lieblingsperson von damals und schreibe als dieser Mensch einen Brief an Dich selbst. Denke Dir aus, was sie alles erlebt haben könnte und was sie Dir womöglich heute sagen möchte. Dabei ist es nicht wichtig, ob dies womöglich eine bereits verstorbene Person ist. Sie wird nämlich durch Dein Schreiben wieder lebendig.